JohnsonDeutsche Wirtschafts Nachrichten:Interessanterweise gab es aus den anderen europäischen Staaten kaum Reaktionen auf die Wikileaks-Enthüllungen zum CIA-Standort Frankfurt am Main. Wie erklären Sie sich das?

Gert R. Polli: Von Großbritannien war keine Reaktion zu erwarten. Schon traditionell haben die britischen Dienste eine sehr enge Beziehung zu ihren amerikanischen Kollegen. Überdies genießen die britischen Alliierten die gleichen Sonderrechte in Deutschland wie ihre amerikanischen Kollegen. Davon machen sie im technischen Aufklärungsbereich auch ausgiebig Gebrauch. Auffällig ist aber schon, dass die Snowden-Papiere überwiegend Deutschland betreffen und andere europäische Staaten, wenn überhaupt, so nur am Rande erwähnen. Ich erkläre mir das Schweigen der EU-Partner damit, dass man diese Affäre politisch durchtauchen wollte. Jeder europäischen Staatskanzlei ist jedoch bewusst, dass die amerikanische Spionageaffäre in Deutschland nicht auf Deutschland beschränkt werden kann, sondern ein europäisches Problem im Umgang mit den amerikanischen Partnern darstellt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten:  Die USA arbeiten ja auch über die Five Eyes mit den britischen Geheimdiensten zusammen. Wäre es denkbar, dass die EU während der Brexit-Verhandlungen ausspioniert wird – und die Briten damit frühzeitig die Verhandlungsstrategie der EU erkennen können?

Gert R. Polli: Das ist nicht nur denkbar, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Beispiele dafür gibt es in der Vergangenheit viele. Die britischen Dienste bereiten sich schon seit geraumer Zeit auf den Brexit und die Zeit danach vor. Das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU geht auch damit einher, dass eine Vielzahl von britischen Diplomaten als Quellen und Informanten für die britischen Dienste ausfallen. Dafür muss Ersatz geschaffen werden. Was man jetzt schon erkennen kann, ist nicht nur eine Anwerbungsinitiative bei nicht-britischen Diplomaten und Dienstnehmern in Brüssel und anderswo, sondern seit etwa sechs Monaten auch eine beträchtliche Aufstockung der Dienste, die nicht mit der terroristischen Gefährdungslage erklärbar ist.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ihr Buchtitel ließe sich aktuell ja auch auf die USA ausdehnen. Dort hat man den Eindruck, als sei der Konflikt zwischen dem Weißen Haus und den Geheimdiensten völlig außer Kontrolle. Ist das so – und wenn ja, was kann da noch alles kommen?

Gert R. Polli: Eine Situation, in der die amerikanischen Dienste dem Präsidenten die Loyalität aufgekündigt haben, ist neu. Als außer Kontrolle würde ich die Situation trotzdem nicht sehen. Es sind die Medien, die uns dieses Bild vermitteln.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie ist das Verhältnis der Geheimdienste untereinander – also etwa der US-Dienste zum FSB, oder zum türkischen MIT, oder zu den deutschen Diensten?

Gert R. Polli: Die Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Dienste sind die Hüter des jeweiligen nationalen Interesses. Das macht ja die Zusammenarbeit so schwierig. Das jeweilige Verhältnis ist gewissermaßen der politischen Lage angepasst. Es hat nach wie vor seine Gültigkeit, wenn behauptet wird, dass Dienste nach den jeweiligen nationalen Interessen und nicht auf der Basis von Freundschaften agieren. In der deutschen Dienstlandschaft war das bis vor der Snowden-Affäre nicht zutreffend. Die Freundschaft mit den amerikanischen Diensten war quasi verfassungsrechtlich verordnet. In früheren Zeiten hatten Dienste die Aufgabe, Kommunikationskanäle auch dann aufrecht zu erhalten, wenn die Politik diese vorübergehend verloren hat. Das brachte es mit sich, dass die Dienste in einer eigenen politischen Umgebung wirkten und vom politischen Tagesgeschehen weniger tangiert wurden. Heute ist der Abstand von Diensten zum politischen Dienstherren viel enger geworden. Eines der besten Beispiele dafür ist die Instrumentalisierung des MIT durch den türkischen Präsidenten und AKP-Chef. Ein älteres Beispiel für diesen Trend ist das Verhältnis Putins zur russischen Intelligence Community. Die negativen Konsequenzen dieses Naheverhältnisses haben uns aber die amerikanischen Dienste geliefert. Der Irakkrieg wurde mit der politisch gewollten Beurteilung durch Teile der Intelligence Community gerechtfertigt, wonach der Irak im Besitz von Massenvernichtungswaffen gewesen wäre. Ein klassisches Beispiel, wie die Nähe der Dienste zum politischen Dienstherrn diese korrumpiert.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Werden die Geheimdienste in der öffentlichen Rezeption unter- oder überschätzt?

Gert R. Polli: Meines Erachtens werden Sie überschätzt. Kohl hatte einmal während seiner Amtszeit als Kanzler den Präsidenten des BNDs zu sich zitiert, um ihm mitzuteilen, dass die tägliche Berichterstattung der NZZ über Russland mehr Qualität hätte als die Lagebilder des BNDs. Das mag in der Tat das eine oder andere Mal zutreffen. Entscheidend für die Beurteilung der Qualität der Dienste ist jedoch das Lagebild, das in Krisensituationen erstellte wird und als Grundlage für politische Entscheidungen herangezogen werden kann. Darin liegt die Bedeutung der Dienste. Als Beispiel dafür kann die Situation in der Ostukraine herangezogen werden. Nur Nachrichtendienste mit ihren Mitteln sind in der Lage die Situation vor Ort jenseits der öffentlichen Berichterstattung abzuschätzen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Europa steht im Mittelpunkt Ihre Buchs. Worauf muss sich Europa in den kommenden Jahren einstellen?

Gert R. Polli: Europa und auch die EU befinden sich derzeit in einer der wohl schwierigsten Krisen seit ihrem Bestehen. Ich gehe davon aus, dass sich die EU strukturell und inhaltlich in den kommenden Jahren neu ausrichten wird. Wir schauen einer schwierigen Zeit entgegen, ob es die geopolitische Neuordnung des Kontinentes betrifft oder die neue Rolle Deutschlands in einem sich rasant verändernden Umfeld. Es sind nicht nur die Herausforderungen an der europäischen Peripherie, wie die Instabilität im Nahen Osten oder am afrikanischen Kontinent, die Europa in den kommenden Jahren nachhaltig verändern werden. Wir sind auch Zeuge innenpolitischer Veränderungen, die viel stärker als noch in den vergangenen Jahren auf nationale Alleingänge setzen. Eines erscheint mir sicher: Europa, wie wir es heute kennen, wird es in einigen Jahren so nicht mehr geben.